Augenschein
A light installation for the Stieglerhaus, St. Stefan ob Stainz, Austria
“Augenschein” ist ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum, in dem das Auge symbolisch darauf verweist, wie unsere Gesellschaft aber auch unser persönliches Leben durch Sehen und Sichtbarmachung geprägt ist. Im Vorbeigehen, sozusagen, fällt unser Blick auf ein Auge. Aber gleichzeitig blickt dieses überdimensionale Auge auf uns zurück wie eine Art sichtbares Echo der Belebtheit und Lebendigkeit des menschlichen Blicks, aber auch der Besorgnis und Angst, die sich durch ihn manchmal ausdrückt. Jedes Auge ist einzigartig, aber gemeinsam erinnern sie uns daran, wie sehr das Sehen und seine Interpretationen die Kultur, in der wir leben, prägt und damit auch die Art wie wir miteinander umgehen und miteinander leben. In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, dass dies sowohl positive Perspektiven sichtbar macht als auch auf problematische Entwicklungen verweist, vor denen wir sozusagen die Augen nicht verschließen dürfen. Für mich ist “Augenschein” sowohl als Titel als auch als Kunstwerk ein Emblem für eine offene Gesellschaft, in der wir uns aktiv wahrnehmen und gegenseitig anerkennen. Gleichzeitig sieht „Augenschein“ der Tatsache ins Auge, dass wir zunehmend beobachtet, überwacht und kontrolliert werden – wir also als Datensätze politischen und wirtschaftlichen Interessen unterworfen werden, die uns automatisiert erkennen und steuern wollen. Hier dreht sich die utopische Vision einer fruchtbaren Verbindung zwischen Mensch und Maschine in ihr Gegenteil, die der amerikanische Dichter Richard Brautigan einst so formulierte: „all watched over by machines of loving grace”.
Das Kunstwerk ist an einer der Außenwände des Kulturzentrums Stieglerhaus angebracht. Seine Augen schauen also direkt auf die Hauptstraße von St. Stefan ob Stainz, einem Ort im idyllischen Schilcherland, einer Weinbauregion in der Weststeiermark. “Augenschein“ konfrontiert den Ort somit mit einer Allegorie, also einer künstlerischen Darstellung, die ich aus Videoaufnahmen menschlicher Augen zusammengesetzt habe. Sie symbolisiert für mich eine Kultur, die durch Sehen, Sichtbarmachung und Transparenz geformt und geprägt ist. Als Filmsequenz verweist „Augenschein“ aber auch auf seinen eigenen materiellen und technischen Hintergrund – also auf „Video“, ein Wort, das in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung nichts anderes heißt als „Ich sehe“. Und während Sehen eine Kulturtechnik ist, die unzählige Interpretationen und Anwendungen hervorgebracht hat, verweist der Titel “Augenschein“ auch auf optische Eindrücke und Erscheinungen und ihre Folgen. Etwas „in Augenschein nehmen“ bedeutet, dass man es einer genauen Betrachtung unterzieht, es kritisch prüft und begutachtet, ja sogar gerichtlich untersucht.
Das Sehen ist der Leitsinn unserer Gegenwart, das Auge ist sein Organ. Dabei ist der Sehprozess aber kein objektiver Vorgang. Vorstellungen, gesellschaftliche Konventionen, Wünsche, Hoffnungen, aber auch Erinnerungen und Phantasien beeinflussen ihn und ermöglichen so den kulturhistorischen Prozess der Individualisierung. Die „Macht des Auges“ verkörpert sich in vielen unterschiedlichen Bedeutungen. Sie reichen von der Schaulust auf die Welt über die Sichtbarmachung durch Wissenschaft und Technik bis hin zum Blick in unser je eignes Innenleben. Das Auge steht für Bewusstsein und Einsicht, für Vorsehung und Liebe, aber auch für Dämonie, Aberglaube und Voyeurismus. Es symbolisiert die aufgeklärte Wissenschaft und den Fortschritt ebenso wie Allmachtsphantasien und Weltverschwörungstheorien. Es steht als Metapher für das allsehende Auge Gottes ebenso wie für Überwachungsnetze, für Umsicht, Voraussicht, Wachsamkeit und die Konzentration auf das Wesentliche ebenso wie für die Schönheit der sichtbaren Welt.
Das Kunstwerk “Augenschein“ hat selbst die Form eines Auges, die aus den auf der Wand angebrachten Dämmplatten herausgeschnitten wurde. Dahinter liegt ein LED Netz, das aber bewußt eine niedrige Auflösung hat. Das Auge, das die vorbeigehende oder -fahrende Betrachterin also ansieht, ist in der Nähe nur als Pixelbild erkennbar. Erst bei größerer Distanz werden die Augen im Detail sichtbar. Die Videokomposition der filmischen Sequenz wechselt bei jedem Wimpernschlag von einem zum nächsten Auge. Die Augen, die ich gefilmt habe, stammen zum Großteil von Menschen aus St. Stefan ob Stainz, wobei es mir aber wichtig war, unterschiedliche Altersgruppen und Ethnien abzubilden. Was mir außerdem sehr wichtig ist, ist, dass ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum auf die dort lebenden Menschen zugeht und sie inkludiert. Daher kommuniziert „Augenschein“ nicht nur mit dem Ort und seiner Bevölkerung, das Kunstwerk ist durch ihre Mitwirkung entstanden und existiert nur dadurch, dass mir ein Teil der Bewohner*innen sozusagen ihr Auge geschenkt hat. Wenn sie daran vorbeigehen beziehungsweise wenn sie „Augenschein“ betrachten, fragen sie sich vielleicht, welches nun ihr eigenes Auge ist oder erkennen es vielleicht auch. Auf diese Weise, so hoffe ich, wird das Auge, das ja auch ihr Auge ist, für die Bevölkerung zu einem Symbol für Zusammenhalt, der zwar nie ohne Konflikte möglich ist, aber auf Zugehörigkeit und Anerkennung beruht.
Sylvia Eckermann
Credits:
Augenschein, Sylvia Eckermann, 2020. Lichtinstallation für die Aussenwand des Stieglerhaus, St. Stefan ob Stainz.